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Von Martin Luther zu Martin Luther King Von Martin Luther zu Martin Luther King Beliebt

Liebe Schwestern und Brüder,

Die heutige Ansprache ist weniger der Gattung einer Predigt zuzuordnen, sondern ist eher ein Referat. Das hat damit zu tun, dass ich gebeten wurde, etwas zu MLK zu sagen und wie im Jahr, in dem wir der 95 Thesen Martin Luthers gedenken, die vor 500 Jahren angefertigt wurden, mit den beiden Gestalten ML und MLK umzugehen ist.

Haben Sie sich jemals gefragt, warum ein Afro-Amerikaner namens King mit Vornamen nach dem deutschen Reformator Martin Luther genannt ist? Das Eigenartige ist ja, dass ein deutscher Nachname hier als zweiter Vorname auftaucht. Das ist in den USA nicht ganz so unüblich wie bei uns; insbesondere Frauen benutzen oft ihren Mädchennamen als zweiten Vornamen wie Hillary Rodham Clinton, aber bei Männern ist es doch ungewöhnlich. Die Antwort im vorliegenden Fall heißt, dass der Vater King, Daddy King, wie er oft genannt wurde, 1934 am Kongress des Baptistischen Weltbundes als Delegierter in Berlin teilnahm. US-amerikanische Delegierte machten nach dem Kongress einen Abstecher nach Wittenberg, und Daddy King war von diesem Besuch so angetan, dass er nach seiner Rückkehr seinen Namen und den seines Sohnes in Martin Luther King ändern ließ. Aus Michael wurde ML Spezifische Gründe für die Namensänderung ließen sich nicht ausfindig machen, jedenfalls hat man mir auf meine Anfrage im King Center in Atlanta bisher keine Auskunft gegeben. Es gilt also zunächst festzuhalten, dass der Name von Michael King zu MLK umgewandelt wurde, weil Daddy King in Wittenberg war, was ihn offenbar beeindruckte.

Es lässt sich weiter festhalten, dass Martin Luther in Kings theologischer Ausbildung keine wichtige Rolle gespielt hat. Im Gegensatz zu Calvin, dessen Hauptwerk, die Institutio, er wiederholt zitiert, wird Luther nur aus Büchern über ihn zitiert. Das ist aber weiter nicht verwunderlich; denn in der Tradition der afro-amerikanischen schwarzen Kirche spielte Luther und seine Rechtfertigungslehre keine erkennbare Rolle. King kann daher nicht von dem Hauptartikel des reformatorischen Erbes her interpretiert werden. Dagegen ist die in der schwarzen Kirche (black church) tradierte Form der Theologie und Frömmigkeit von größter und ausschlaggebender Bedeutung. Daher müssen wir zunächst fragen, was die schwarze Kirche ist, wie sie entstand und wofür sie steht bzw. was sie bewegt.

Die schwarze Kirche – the black church – entstand im Zusammenhang mit der unsäglichen Geschichte der Sklaverei. Statt vieler Ausführungen lassen Sie das folgende Gedicht auf sich wirken:

They dragged you from homeland,
They chained you in coffles,
They huddled you spoon-fashioned in filthy hatches,
They sold you to give a few gentlemen ease.

They broke you in like oxen,
They scourged you
They branded you
They made your women breeders,
They swelled your numbers with bastards,
They taught you the religion they disgraced.

Sie schleppten euch aus eurem Heimatland,
Sie ketteten euch zu einer Menschenkette,
Sie drängten euch wie Löffel aneinander in ekelhaften Luken unter Deck,
Sie verkauften euch, um einigen Vornehmen Bequemlichkeit zu bieten

Sie richteten euch ab wie Ochsen,
Sie peitschen euch aus,
Sie brannten euch ein Zeichen ein,
Sie machten eure Frauen zu Zuchttieren,
Sie ließen eure Zahlen mit Bastarden anschwellen,
Sie lehrten euch die Religion, die sie schändeten.


„Sie“, das sind die Weißen, „euch“, damit sind die Schwarzen gemeint. „Sie“ begehen die aufgeführten Verbrechen, wobei den Frauen zusätzliches Leid zugefügt wird, weil sie als sexuelle Lustobjekte der Weißen zugleich den finanziellen Gewinn erhöhten; denn die Kinder schwarzer Frauen waren automatisch wieder Sklaven. Dieser Umstand kam besonders ins Spiel, nachdem der Sklavenhandel 1806/08 abgeschafft worden war, aber die Nachfrage nach Sklaven in den Südstaaten der USA ungebremst anhielt. Da blieb den weißen Plantagenbesitzer nur die Zeugung schwarzer Babys („Bastarde“), denen der sichere Weg in die Sklaverei vorgezeichnet war. An einem Punkt hat der Autor für die Anfangsjahre Unrecht: „Sie lehrten euch die Religion, die sie schändeten“. Mit der letzten Aussage hat er zweifellos Recht, doch ist der erste Teil der Zeile irreführend; denn anfänglich war es verboten, die Sklaven in der Religion zu unterrichten. Dahinter verbirgt sich eine panische Angst auf Seiten der Plantagenbesitzer, dass die Religion ihren Interessen entgegenlaufen könnte.

Was die Religion betrifft, so ergab sich für die Sklaven eine grundstürzende Frage: Wenn die weißen Plantagenbesitzer und Bauern Gott dienten, wie sie es taten oder auch nur vorgaben, und wenn sie sich ihren Sklaven gegenüber so verhielten, wie sie es taten, dann konnte den Sklaven der Gott der weißen Plantagenbesitzer oder Bauern nur als ein weißer Gott erscheinen, der mit denen, die sie unterdrückten, in einem Boot saß: Gott war dann ein weißer Rassist. Die Sklaven erfahren sich als leidende Nicht-Menschen. Das Mensch-Sein wird ihnen mit der Versklavung abgesprochen, und diese Erfahrung markiert zugleich den Beginn der schwarzen Rede von Gott. Gilt Gottes Güte und Barmherzigkeit nur für Weiße und schließt Schwarz-Afrikaner aus? Wie lässt sich entscheiden, ob Gott ein weißer Rassist oder ein Befreier ist? Um es an einem Beispiel zu demonstrieren: Ein anglikanischer Priester, der die Sklavenhalter dazu anhalten wollte, ihre Sklaven im christlichen Glauben unterrichten zu lassen, erhielt häufig die Antwort: „What, such as they? What, those black Dogs be made Christians? What, shall they be like us“? Wie – so wie diese da? Wie bitte, sollen diese schwarzen Hunde zu Christen werden? Sie sollen wie wir werden? Weiße Missionare hatten wenig Chancen.

Das änderte sich erst, als ausgangs des 18. Jahrhundert ehemalige Sklaven damit begannen, eigene schwarze Kirchen zu gründen. Die Zahlen schnellten in die Höhe, besonders bei Methodisten und Baptisten. Diese Entwicklung kam offenbar auch den Weißen entgegen, ja weiße Theologen in großer Zahl wiesen nach, dass Sklaverei biblisch sei und daher kein Verstoß gegen Gottes Ordnung. Nicht zuletzt aus diesem Grund kam es auch den Afro-Amerikanern gelegen, dass die Kirchen segregiert blieben. Es bestand daher die höchst befremdliche Situation, dass die weißen Kirchen das in den Augen der Schwarzen ultimativ Böse, nämlich die Sklaverei, verfestigten, während die Schwarzen nach Wegen suchten, dieses zu überwinden. Wer hatte da wohl das Evangelium auf seiner Seite?

Was stellten die schwarzen Prediger und Kirchen/Gemeinden in den Mittelpunkt? Bei der Beantwortung dieser Frage zeigt sich deutlich eine Abweichung von Luther: Luther ging es um die Rechtfertigung, die wir umsonst von Gott erhalten. Das war hohe Theologie von einem akademisch trainierten Theologen. Für die Schwarzen, die zumeist Analphabeten waren, war das viel zu unanschaulich. Sie waren fasziniert von den Geschichten in der Hebräischen Bibel wie die Erschaffung der Welt, die Mose-Geschichten, Texte der Propheten. Ihre soziale Lage ließ sie auf andere Texte aufmerksam werden als Luther und dessen Beschäftigung mit dem Römerbrief. Es geht bei dem allen nicht um ein Gegenüber von Intelligenz der Weißen und ihrer Fähigkeit zu abstraktem theologischen Denken auf der einen Seite und angeborener Dummheit der Schwarzen und ihre bescheidene Aufnahmefähigkeit auf der anderen Seite. Das wurde und wird oft so gesagt, aber nicht die Intelligenz steht zur Diskussion, sondern einzig die unterschiedliche soziale Lage von Schwarzen und Weißen, und die wurde bestimmt von der weißen Gesellschaft mit ihrer Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung. Die Schwarzen erlebten in den Texten der Hebräischen Bibel anschaulich-fassbar, wie Gott für seine versklavten Kinder in Ägypten eingreift. Für die schwarzen Menschen war wichtig zu erfahren, dass Gott mit seinem Volk nicht untätig blieb, sondern dass er den Pharao besiegte, damit dieser das Volk ausziehen lassen musste. Das war den Sklaven, aber auch den bereits freigelassenen oder freigekauften Afro-Amerikanern hinreichender Grund für die Hoffnung, dass derselbe Gott es auch mit seinem „schwarzen Israel“ tun wird: To let my people go. = lass mein Volk ziehen, ähnlich dem Schlüsselvers der Torah: Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt hat (2. Mose 20,2). Irgendwann kommt der Tag, an dem man sein home over Jordan sehen wird.

Dazu kommt, dass der König Jesus -- „King Jesus“ –, der in einem unscheinbaren Stall geboren wird – away in a manger –- und der mit den Armen und Verachteten zu Tische liegt, auf Seiten der Unterdrückten steht und sie stärkt. Das Leben dieses Königs erreicht am Kreuz seinen Höhepunkt: were you there when they crucified my Lord? Man kann daneben stehen und die Agonie des King of kings mit ansehen, mit ihm leiden, mit ihm sterben und dann auch mit ihm auferstehen. Diese Beschreibung der Befreiungstat Gottes hat auch zu einer Jenseitsvertröstung geführt. Die tag- täglich erfahrene Situation der Unterdrückung und des Sklavendaseins war zu trostlos und beklagenswert, als dass man auf eine baldige und grundlegende Befreiung hoffen konnte. So wird verständlich, warum man den schwarzen Predigern vorgeworfen hat, sie würden ihren Gemeinden „pie in the sky by and by“ („Torte im Himmel für und für“) anbieten. Aber die biblischen Texte waren gewaltiger, als dass sie nur für das Jenseits hätten ausreichen können. Die panische Furcht vieler weißer Grundbesitzer war alles andere als unbegründet, dass die Begegnung der Sklaven mit dem Befreier-Gott zu Revolten führen könnte, was tatsächlich auch der Fall war.

In dieser mosaischen und prophetischen Tradition stand MLK. Er hatte sich schon früh in seiner Ausbildung mit den Schriften von Walter Rauschenbusch (1861-1918) befasst, dem Sohn eines deutschen Pfarrers aus Westfalen, der eigentlich deutsche lutherische Auswanderer in Amerika seelsorgerlich begleiten wollte, der aber in Amerika zum Baptismus übertrat. Seinen Sohn Walter hatte er nach Gütersloh geschickt, damit er dort Abitur machen sollte, was auch geschah. Nach seinem Theologiestudium am baptistischen Rochester Theological Seminary war Walter Rauschenbusch etliche Jahre Pastor einer deutschsprachigen Baptistengemeinde in einem Viertel New Yorks, das man „Höllenküche“ nannte. Hier kamen die neu Eingewanderten an, und hier herrschten schreckliche Lebensumstände: Alkohol, Prostitution, unhygienische Wohnverhältnisse etc. In dieser Situation dachte Rauschenbusch über die Anwendung des Evangeliums auf die soziale Lage nach; man nennt die „social gospel“ - das soziale Evangelium. King hat diesen Ansatz Rauschenbuschs aufmerksam gelesen und war davon begeistert, dass ein Baptist diese Gedanken niedergeschrieben hatte. Kings Interesse an der gesellschaftlichen Bedeutung des Evangeliums kann man so umschreiben, dass es nicht nur um das Seelenheil des Einzelnen gehen darf, sondern auch und betont um die gesellschaftlichen Bedingungen von Armut, um den Kampf für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte und schließlich auch um den Kampf gegen den Krieg in Vietnam.

Die Verbindung von dem sozialen Evangelium zu der Befreiung der Kinder Israels aus dem Sklavenhaus oder die prophetische Tradition eines Amos oder Micha liegt auf der Hand; der schwarzen Kirche war eigentlich von Anfang an eine soziale und prophetische Dimension in die Wiege gelegt. Die schwarze Kirche ist eine prophetische, auf Befreiung ausgerichtete Kirche, und King hat bei Rauschenbusch diese Tendenz vertiefen gelernt. Allerdings hat King seinen Rauschenbusch nicht unkritisch gelesen. Den Optimismus, den Rauschenbusch ausstrahlte, konnte King angesichts der Geschichte nicht teilen. King meinte, dass die Geschichte immer wieder die beschämende Neigung des Menschen zeigt, das Böse zu wählen. Da zeigt sich für ihn „die Tiefe und Kraft der Sünde“. Der Kampf gegen die Sünde und gegen das Böse wird aus der prophetischen Tradition abgeleitet und zugleich aus der Idee des Reiches Gottes; denn dieses Reich ist ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, wenn alle Tränen abgewischt sind. Das ist zwar eine Aussage der Zukunft, aber von dieser Zukunft her wird die Gegenwart in ein neues Licht getaucht und Mut vermittelt, an der Umgestaltung der Verhältnisse mitzuwirken.

Warum braucht es eine Umgestaltung der Gesellschaft? Die Hauptfaktoren wurden eben schon genannt: das Böse und die Sünde lassen in der Gesellschaft sündige Strukturen entstehen; die Gerechtigkeit wird unterlaufen; unfaire Gesetze begünstigen einige und diskriminieren viele andere. Der Rassismus, d.h. die Eingruppierung von Menschen entsprechend ihrer Hautfarbe, macht Afro-Amerikaner zu Menschen zweiter Klasse, deren Wahlrecht z.B. häufig in Frage gestellt wurde. Oder: Wenn King von seinem Studienort Boston in Neu-England zu seinen Eltern nach Atlanta fuhr, musste er vor der sog. Mason-Dixon-Line umsteigen in nur für Schwarze reservierte Eisenbahnwaggons. Nördlich dieser Ost-West Linie war die Sklaverei früher verboten, südlich erlaubt, im Süden herrschten nach der Sklavenbefreiung diskriminierende Gesetze, die Jim Crow Laws. Gerechtfertigt wird die Trennung der Reisenden mit dem Grundsatz „separate, but equal“, d.h. die Reisenden fahren in getrennten Waggons (= separate), fährt der Zug für alle zur gleichen Zeit ab und kommt zur gleichen Zeit an (= equal), so dass angeblich kein Nachteil entsteht. Oder: Muss einem Vater nicht das Herz brechen, wenn er seinen heranwachsenden Kindern erklären muss, warum sie nicht in das öffentliche Schwimmbad dürfen, bloß weil ihre Hautfarbe nicht weiß ist? Das sind die großen und kleinen Nadelstiche, die das Leben so beschwerlich machen oder die bewirken, dass man diese Diskriminierungen verdrängt, sich daran gewöhnt und meint, das sein normal.

Nach Auffassung Kings ist das aber alles andere als normal, sondern Ergebnis der unseligen Sklaverei-Vergangenheit und muss überwunden werden. Das sagt schon die Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien, die feststellte, dass alle Menschen frei und gleich geschaffen sind und mit unveräußerlichen Rechten betraut sind. In der biblischen Tradition heißt dieser Sachverhalt, dass alle Menschen, gleich welcher Hautfarbe, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind. Die ganze Menschheit ist daher wie eine große Familie. Von der „beloved community“ hat King immer wieder gesprochen.

Wie schaffte es King, über 30 mal im Gefängnis zu landen und dennoch einschneidende Gesetzesänderungen in Gang zu setzen? Seine Methode war die der friedfertigen, gewaltlosen, direkten Aktionen. Grundlage dafür waren die Bibel- und Gebetsstunden in den Gemeinden und die damit einhergehenden Schulungen. Man musste lernen, Schläge der Polizisten auszuhalten, ohne zurückzuschlagen. Wer meinte, das nicht zu können, dem wurde empfohlen, nicht an den Aktionen in der Öffentlichkeit teilzunehmen, dafür aber zu Hause allein oder mit Freunden für das Gelingen der Aktionen zu beten. Kings großes Vorbild war Gandhi (1869-1948), der durch die Methode, die er Satyagraha nannte, das britische Empire dazu zu zwingen, Indien aus dem Statur einer Kolonie in die Unabhängigkeit zu entlassen.

King hatte während seiner Ausbildung von einem seiner Lehrer über Gandhi gehört und dessen Methode durchdacht und zur Anwendung gebracht. Was King freilich nicht wusste, war der Umstand, dass er sich auch hier auf sicherem baptistischem Boden bewegte. Denn Gandhi verdankte es einem baptistischen Pastor der Gemeinde in Johannesburg, mit den Möglichkeiten des zivilen Widerstands vertraut zu werden. Darüber habe ich einen längeren Aufsatz verfasst. Die Geschichte ist, kurz gesagt, wie folgt: 1902 hatte der Londoner Baptistenpastor und erster Präsident des Baptistischen Weltbundes (Gründung 1905), Dr. John Clifford (1835-1923) das Nationale Komitee des Passiven Widerstandes gegründet, nachdem das englische Parlament ein Schulgesetz verabschiedet hatte, das anglikanischenund römisch-katholischen Schulen besondere Rechte einräumte. Das sah Clifford als Diskriminierung an, und er reif dazu auf, die Erziehungssteuer (education tax) nicht an den Fiskus abzuführen. Mit Hilfe des unter seiner Leitung zustande gekommenen Freikirchenrat (Free Church Council, 1892 gegr.) organisierte Clifford 648 lokale Widerstandskomitees. Gandhi, der in England Jura studiert hatte, erfuhr von dieser Bewegung, maß ihr aber zunächst keine Bedeutung bei. Das änderte sich, als eine indische Firma in Südafrika einen Prozess führen musste. Gandhi war nach Ankunft in Südafrika von der Situation seiner indischen Landsleute dort bestürzt. Die Engländer hatten relativ viele Inder vor allem auf die Zuckerplantagen geschickt. Gandhi setzte sich an die Spitze der indischen Bewegung in Südafrika zur Herbeiführung menschlicher Verhältnisse für die unterdrückten Inder.

Einigen Indern galt Gandhi als nicht radikal genug. Im Februar 1908 versuchten radikale Kräfte in Johannesburg, Gandhi zu töten; sie schlugen ihn bewusstlos, doch vereitelten Gandhis Freunde das Schlimmste. Er lag blutend auf der Straße und wurde in eine dort befindliche Anwaltskanzlei getragen und notdürftig behandelt. Zufällig kam der Johannesburger Baptistenpastor Joseph J. Doke (1861-1913) vorbei, der sich zuvor schon bei Gandhi vorgestellt hatte, weil er dessen Kampf unterstützen wollte. Als Gandhi das Bewusstsein wieder erlangt hatte, fragte ihn Doke, ob er lieber ins Krankenhaus wolle, wohin die Polizei ihn bringen wollte, oder zu ihm nach Hause. Sofort entschied sich Gandhi für Dokes Haus und kam in das Zimmer des Sohnes der Familie (mit dem Gandhi stets losen Kontakt hielt).

Zusammenfassung: Kings Quelle des gewaltfreien Widerstands führt zu Dr. John Clifford und seiner Idee des „passiven Widerstands“. Davon wusste Gandhi oberflächlich, doch wurde sein Wissen vertieft durch einen Schüler Cliffords, den Johannesburger Baptistenpastor Joseph J. Doke, in dessen Haus sich Gandhi nach einer Attacke erholte und an den Familienandachten teilnahm. Er schrieb: „I am well in the brotherly and sisterly hands of Mr. and Mrs. Doke“. Gandhi störte sich an dem Wort „passiv“; denn der durch Liebe gesteuerte Widerstand ist höchst aktiv. Doke schrieb in seiner Gandhi-Biographie, der ersten überhaupt: Gandhis Ideal sei „nicht so sehr der passive Widerstand gegen das Böse, als die aktive Auswirkung der guten Tat als Antwort auf die schlechte“, und Gandhi selbst sagte: „Richtige Größe besteht darin, Böses mit Gutem zu vergelten.“ Von Clifford führt der Weg über J.J. Doke zu Gandhi, der den gewaltlosen Widerstand in Indien umsetzte - davon hatte King Kenntnis, aber nicht über Gandhis baptistische Quelle.

King war nach seinem Studium Pastor der Dexter Avenue Baptist Church in Montgomery, AL. Er war erst ein Jahr dort, hatte weder eingefleischte Feinde, noch dicke Freunde, und daher wurde er im Dezember 1955 zum Präsidenten der neu formierten Montgomery Improvement Association gewählt. Dieser Verein war gegründet worden, nachdem die Afro-Amerikanerin Rosa Parks (1913-2005) nach getaner Arbeit sich weigerte, ihren Sitz in dem Teil des Busses, der nur für Weiße reserviert war, aufzugeben. Sie wurde am 1. Dezember 1955 wegen Verstoßes gegen die Gesetze der Segregation verhaftet. Daraus entwickelte sich der über ein Jahr dauernde Busboykott der Schwarzen, der am Ende die Busgesellschaft in die Knie zwang. Kings erste Rede nach seiner Wahl enthielt folgende Passage:

„Wir haben keine Alternative als zu protestieren. Viele Jahre haben wir erstaunliche Geduld an den Tag gelegt. Wir haben unseren weißen Brüdern das Gefühl vermittelt, dass wir es mögen, wie sie uns behandeln. Aber wir sind heute Abend hier zusammengekommen, um uns von dieser Geduld befreien zu lassen, damit wir unsere Geduld auf nichts geringeres richten als auf Freiheit und Gerechtigkeit.“

Am 16. April 1963 schrieb King auf Abfallpapier aus dem Stadtgefängnis von Birmingham, AL einen Brief an sieben Pastoren und einen Rabbiner der Stadt, die ihn kritisiert hatten, weil er in die Stadt gekommen sei mit seinen extremen Aktionen. Diesen Brief halte ich für eines der aufregendsten Dokumente der prophetischen Tradition, ja der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. King vergleicht sich mit den Propheten des 8. Jahrhunderts und mit dem Apostel Paulus, die alle ausgezogen waren, um das Wort des Herrn verlauten zu lassen: „[...] so fühle auch ich mich genötigt, das Evangelium der Freiheit jenseits meiner Heimatstadt zu verbreiten; denn „Injustice anywhere is a threat to justice everywhere = Wenn es irgendwo Ungerechtigkeit gibt, ist das überall eine Gefahr für die Gerechtigkeit.“ Der größte Stein des Anstoßes auf dem Weg in die Freiheit seien nicht die rechten White Citizens Councils oder der Ku Klux Klan, sondern die „moderaten“ Weißen, die „Ordnung“ über „Gerechtigkeit“ stellen. Genauso enttäuscht war King von der „weißen“ Kirche, deren Repräsentanten ihn des „Extremismus“ beschuldigten.

King konterte: „ War nicht Jesus ein Extremist der Liebe, war nicht Amos ein Extremist für Gerechtigkeit: 'es soll aber das Recht offenbar werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom'. War nicht Paulus ein Extremist für das Evangelium? War nicht Martin Luther ein Extremist: 'Hier stehe ich […]' Und John Bunyan: 'Ich will lieber bis zum Ende meiner Tage im Gefängnis bleiben als aus meinem Gewissen ein Blutbad zu machen.' Und Abraham Lincoln: 'Diese Nation kann nicht überleben, halb versklavt und halb frei' Und Thomas Jefferson: 'Wir erachten diese Wahrheiten als selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.' So stellt sich die Frage nicht, ob wir Extremisten sind, sondern welcher Art von Extremisten wir sein möchten.“

Die wenigen Auszüge dieses lange Briefes mögen genügen, um zu zeigen, wie stark der prophetische Protest wirkt und wie er zugleich die priesterliche Komponente enthält, auf seine weißen Mit-Pastoren seelsorgerlich einzugehen, um sie von dem Zusammenspiel von Freiheit und Gerechtigkeit zu überzeugen. Dieser Brief zeigt die soziale Dimension des Glaubens deutlich auf. Unterdrückung darf auf Dauer nicht sein. Das Leitmotiv ist vielmehr Befreiung und Freiheit. Eine Theologie der Befreiung durchzieht die religiöse Geschichte der Afro-Amerikaner von Beginn bis heute, Befreiung als religiöser und politischer, ja auch als revolutionärer Prozess und Freiheit als Ziel sind die fundamentalen Daten schwarzer Spiritualität und schwarzer Theologie. Das Wesen schwarzer Spiritualität liegt in der Sehnsucht nach Befreiung beschlossen, selbst wenn es in der Geschichte geradezu ausweglose Situationen des Leidens gab, die nicht Freiheit als unmittelbare Antwort verlangten, sondern den Willen zum Überleben. Aber dennch wird man sagen müssen, dass selbst die Vertröstung auf ein Jenseits immer noch den Unterton der Freiheit zum Klingen brachte. Denn das Land „up yonder“ oder „over yonder“ ist ein Land der Freiheit.

Das kann uns auch noch einmal den Blick auf Martin Luther öffnen. Für Luther gab es auch einmal die Sehnsucht nach Freiheit. Er sprach sie vor dem Reichstag in Worms 1521 aus und brachte in seinen Schriften über die Obrigkeit 1523 das noch einmal vor. Aber nach dem Bauernkrieg 1525 wird von ihm unablässig der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gepredigt: „Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat“. Das hat in Deutschland zu dem unseligen Geist eines Untertanen-Gehorsams geführt, der gegen alle Regungen in Richtung Demokratie abtötete. Die Freiheit eines Christenmenschen wird als eine „innere“ Freiheit interpretiert und ist daher gesamt-gesellschaftlich unwirksam.

Zum Schluss noch eine Anekdote zum Schmunzeln, die der berühmte Theologe Harvey Cox von der Harvard Universität erzählte. Cox war enger Freund Kings und gründete sogar einen Ableger der Southern Christian Leadership Conference Kings in Boston und reist zu vielen wichtigen Demonstrationen, um King und den Seinen beizustehen. Nach einer dieser Veranstaltungen zog sich die schwarze Führungsriege in ein Hotelzimmer zurück. Cox wollte abreisen und sich von King verabschieden. Er klopfte vorsichtig an die Zimmertür, die sich langsam öffnete, und vor Cox stand MLK über und über mit Federn bedeckt. Um sich von den Anstrengungen der Demonstrationen „abzukühlen“ hatten die Verantwortlichen eine Kissenschlacht im Hotelzimmer gemacht, ein Kissen war aufgeplatzt, und der Inhalt hatte sich über Martin Luther King „ausgegossen“..

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Erstelldatum12.02.2017 12:42:05
Erstellt vonPeter Arpad
Änderungsdatum26.07.2019 12:43:04
Geändert vonPeter Arpad

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